JANUS


hinter dem vorhang


Janus zählt zu den ältesten und ursprünglichsten Göttern der römischen Mythologie. Als Gott des Anfangs und des Endes richtet er mit seinen zwei Gesichtern den Blick nach vorne und zugleich zurück, in die Zukunft und in die Vergangenheit. Diese ihm innewohnende Dualität fand in der römischen Kultur und Kunstgeschichte Ausdruck in seiner Darstellung als Doppelkopf, der somit auch sinn-bildlich die Gegensätze von Schöpfung und Zerstörung, Licht und Dunkelheit aber auch Leben und Tod in sich vereinte.

 

Die dem in den Jahren von 2019 bis 2022 entstandenen »Janus-Bild« zugrunde liegende Idee hatte mit der Auslegung des Doppelgesichts dieser römischen Gottheit anfangs jedoch noch wenig zu tun: Ich hatte damals ein anderes Bild vor Augen, das als Teil der Werkreihe »sono pellegrino« und anlässlich meiner Fußwanderung gemeinsam mit meinem Bruder Stephan entstand, und zuletzt als Endpunkt eben dieser Pilgerreise und deren Ausdruck den Titel »Roma« erhielt (siehe Galerie). Damals wollte ich das geistige und körperliche Zusammenwachsen mit einem Menschen zum Thema des Bildes machen. Eine gedankliche und physische Verschmelzung der Erlebnisse, Erinnerungen und Erfahrungen von zwei Wanderern, als die wir im Jahr 2009 fünf Wochen zu Fuß von Lausanne in der Schweiz bis nach Rom unterwegs gewesen waren. Aber auch das Verwachsen mit all den Gegenständen (Ausrüstung wie persönliche Objekte), die man auf so einer Reise mit sich herumträgt, und die Verschmelzung mit den Orten, die wir als Pilger durchwandert und besucht hatten, lag diesem Werk zugrunde. Gemeinsam mit der Vorstellung, am Ende so eines Weges schließlich selbst zu einer Art Reliquie zu werden, prägten sie die Entstehung der Vorgängerwerkes »Roma«.

 


Dass sich aus dem Werkauftrag für einen lieben Freund ein aus dieser Idee heraus geborenes völlig neues Bild entwickeln sollte, konnte ich damals nicht erahnen. Doch war das Interesse des Auftraggebers für römische Antike und seine Tätigkeit als Chirurg von entscheidender Bedeutung für die Neukonzeption und Umformung der ursprünglichen Bildidee, birgt doch jedes Werk - wenn auf den ersten Blick oft nur in Nuancen oder kleinen Variationen abweichend - letztendlich etwas völlig Neues in sich und will nicht nur an seinen Vorgängern bemessen werden.

 

Ein Mosaik, das ich vor Jahren im Neapolitanischen Nationalmuseum gesehen hatte, und das in einer allegorischen Darstellung den von Glück, Schicksal und seinen kämpferischen und zurückhaltenden Seiten her geprägten Menschen versinnbildlicht, wurde in diesem neuen Bildanlauf zu dem zweiten zentralen Angelpunkt für den neuen »Janus« und zu einer Synthese mit vielen weiteren Gedanken, Wünschen und auch künstlerischen Herausforderungen, die sich an der über drei Jahre andauernden Arbeit noch ergeben sollten. Und so verwuchs der Pilger mit dem Janus, der Blick auf den Weg mit der Idee des Lebensweges, die zwei Seiten verschiedener Individuen, Persönlichkeiten, die aus einem Gedanken heraus etwas unternehmen, zu einem Symbol für die unterschiedlichen Triebe, Wünsche und Herausforderungen, mit denen jeder von uns in seinem Leben konfrontiert ist und denen wir uns stellen müssen.

 

Über drei Jahre nach Erhalt des Auftrages blicke ich nun auf die Anfänge zu dem Bild zurück und stoße auf eine erste Idee, die ich dem Auftraggeber zu Arbeitsbeginn gemeinsam mit einer Entwurfsskizze übermittelt habe und nun - nach Fertigstellung und vieljähriger Arbeit an dem Werk - mit Interesse, Neugier und mit den Augen eines Außenstehenden betrachte. Manche Bilder brauchen eben Zeit. Dieses Bild brauchte sogar sehr viel davon. Aber es gibt mir mittlerweile auch umso mehr Zeit zurück, um es für mich neu zu entdecken, um mich selbst zu entdecken. Und geht es letztendlich bei jeder Art von künstlerischen Arbeit und in jeder Betrachtung und Wahrnehmung aller Formen von Kunst nicht darum, von den Werken berührt zu werden und wie ein Janus, den einen Blick immer nach vorne gerichtet, gleichzeitig zurückzusehen, um über uns und über unser Leben zu reflektieren? Ich denke, das ist so. Ja, ich bin mir sogar sicher.

 
Florian Köhler, Mai 2023.